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Selbst schuld?!

1. Weltkrieg, Schützengraben, Soldat:

„Man erzählt sich hier unter den Männern bisweilen eine Geschichte, immer dann, wenn der Graben seine hässliche Fratze zeigt und zu Flucht und Verzweiflung mahnt:

Es habe der Graben einst über Tage hinweg einem Unteroffizier so zugesetzt, dass er verzweifelte und sich mehr oder minder geradewegs aus dem Graben schwang, um — wie er zuvor hastig taumelnd und mit gebrochen-erschütterter aber auch empört-fester Stimme kundgab — zum gegnerischen Graben zu eilen und den Feind zur gemeinsamen Aufgabe dieser ganz sinnlosen Schlacht zu überreden.

Noch kurz bevor der den Graben verließ versuchten seine Untergebenen und Kameraden ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Sie wiesen eindringlich darauf hin, dass jenseits dieser schützenden Senken niemand anderes als der Tod sich erbarmen würde, mit ihm das Für und Wider des Krieges auszuhandeln. Der Unteroffizier entgegnete schlicht: „Selbst schuld!“ Sein Tonfall hob dabei an, das Paradox einer willensgetränkten Paralyse zu geben, — niemand verstand, vielleicht konnte niemand verstehen. Letzter Hand hielt man ihn für schwachsinnig und überließ ihn in Ermangelung anderer anwesender Offiziere seinem Willen, – und oder seiner Paralyse.

Und ja, natürlich wurde er erschossen als er sich bar jedes Zeichens aus dem Graben schwang. Und welch vortrefflich-versöhnliches Ende es für diese Anekdote auch abgegeben hätte, wenn er mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen abgetreten wäre, so bewies doch diese Welt erneut, dass sie kein Sinn für menschliche Dramaturgie hat und ließ den Unteroffizier unter Schmerzkrämpfen und wilden Zuckungen mit einem bis ins Äußerste verzerrten Antlitz einen qualvollen Tod erleiden.

Heute lacht man mit falschen Mut gemeinsam über diesen ‚Iditoten‘, man beteuert sich — inmitten der einzig an Verzweiflung nicht armen Dürre der Schlacht — dass das Ausharren im Graben, dass die Schlacht (oder gar der Krieg?) der einzig mögliche Weg sei, die einzig sinnvolle Alternative darstelle. Es ist die naive Logik der in die Enge getriebenen, ja, der Verzweifelnden. Man sieht in diesen absurden Helden einen Idioten, man sieht Wahnsinn, man sieht einen Selbstmord.

Die Nachdenklichen (nicht gar Trübsinnigen) hingegen glauben an und beklagen einen Mord, diese unmenschliche Welt habe wieder einen Menschen in die Verzweiflung getrieben und schließlich dahingerafft.

Aber man täuscht sich, wie ich glaube.

Es war kein Mord, den die Welt an diesen Menschen begangen hat, nein, denn der Unteroffizier ließ in seinem Akt diese Welt gleichsam hinter sich und überschritt deren brennende Sinnlosigkeit. Das ‚Selbst Schuld‘ galt nicht ihm selbst, sondern den Zurückgebliebenen, den Feinden, ja es galt überhaupt allen, die nicht begreifen würden, dass man der Verzweiflung, dieser Sinn-Leere nur durch eine Revolte entkommen könne, durch ein Aufbegehren das die Schlacht verneint und den Menschen dahinter bejaht.

Just bevor er den Graben verließ, beendete er diejenige Schlacht die in seinem Kopf wütete, wohl wissend, dass er allein nicht, dass nicht er allein der Felsbrocken sein könne, der der gewaltigen Maschinerie des äußeren Krieges schließlich Einhalt gebietet.

Das wiederum macht ihn zu einem absurden Helden, denn wo er auf der einen Seite der Sinnlosigkeit des Krieges durch seine Revolte entgegentrat, so wusste er auf der anderen Seite genau, jedenfalls fürchtete er es (und der ekstatische Schmerz des Sterbenden weist uns diesen Weg), welche Rolle er in dieser Revolte zu spielen hatte.

Dennoch.

Er hatte begriffen.

Er hatte begriffen, dass es eine Wahl gab.

Und er hatte gewählt.

Er.“