Es gibt da einen Brief von einem Mann. Darinnen wird behauptet, die Nacht sei dereinst einfach ein junges Mädchen gewesen, das viel schlief, manchmal auch tagsüber. Sophie.
Eines abends wachte sie wieder auf, zwar frisch ausgeruht und ohne die schwelenden Stirnschmerzen, die sie am Nachmittag heimgesucht hatten, doch ärgerlich über die verlorene Zeit – Hier war nichts geschehen: Kein Gedicht war geschrieben, keine Zeichnung angefertigt, nein noch nicht einmal ein Scheit Holz in einen Kachelofen geworfen worden, vor dem man hätte sitzen und nachdenken und der Knisterei zuhören können. Schlecht gelaunt trat sie auf die Straße, eine dünne Trainingsjacke übergeworfen, um in ihren Hausschuhen die wenigen Meter zur Tankstelle an der Ecke, die wie jeden Abend um 22:00 Uhr – also in einer knappen viertel Stunde – zumachen würde, zu laufen. Um sich nämlich ein Bier zu kaufen oder ein Eis.
Es war verblüffend warm hier draußen, Zikaden schienen jeden verfügbaren Platz an den struppig bewachsenen Straßenrändern besetzt zu haben und krakeelten aus Leibeskräften; im ionblauen Himmel taumelten Noten in den Klangfarben ungewohnter Saiteninstrumente und auf den Noten saß, kleine Fäustchen in die Mähnen gekrallt, der kräftige, sedierende Duft von Rosmarin. Die Männer an der Ecke unterhielten sich in einer Sprache, die Sophie nicht verstand, aber deren Klang ihr gefiel und je weiter sie vorwärts schritt, umso voller wurde es in den hohen Gassen und bald fand sie Buden zwischen den weißen Wänden aufgestellt, die Musik spielte nun laut und nah zwischen den Lichtern und Girlanden und schwarzbärtige Männer streckten ihre Hände aus und schenkten ihr Honigscheiben und Armreifen. Alles strebte dem Marktplatz zu, von dem aus, tiefer gelegen, beruhigend und ganz schwarz, das Meer zu sehen war. Menschenmenge, Frauen und Männer, die Zähne blitzten von eigener Trunkenheit in der neuen Zeit.
Es war eine schöne Zeit, während sich Sophies allabendliches Erwachen in dieser so vertrauten Fremde vollzog. Doch weiterhin steht in dem Brief, dass es mit dieser Zeit schnell wieder ein Ende hatte. In der fünfzehnten Nacht ihrer neuen Zeitrechnung trat das nun glückliche Mädchen wieder auf die Straße, nur um festzustellen, dass es doch nur Nacht Nummer fünftausendachthundertvierzig der alten Zeitrechnung war.
Sophie ließ die elende Welt, diese ihr erneut auferlegte leidvolle Vertrautheit zwar nicht völlig hinter, doch zumindest unter sich, indem sie nämlich wie das dünne, schwarze Rauchfädchen aus dem Schornstein eines Krematoriums nach oben stieg und immer weiter, bis sie bei einem Blick nach unten an ihren Füßen vorbei, die am Verschwinden waren, da sie nie wieder festen Grund betreten sollten, auf das hässliche Flachdach der Tankstelle hätte spucken können, hätte sie denn noch einen Mund, hätte sie denn noch etwas Speichel in ihrem Körper gehabt… ihr Körper, der sich in etwas auflöste, das zwar nicht nichts, aber auch nichts großartig anderes als nichts war.
Das Mädchen wurde Nacht.
Eine gewisse Würde verbietet jeden weiteren Kommentar zum Inhalt dieses Briefes. Er wird auch nicht der Vollständigkeit halber erwähnt, sondern nur, weil wir Zeit – vor allem Zeitspannen! –, die Zeit an sich verabscheuen. Oh, wie wir sie hassen! Wir würden sie mit allem möglichen Unnötigen, Ungelenken, Ärgerlichen oder Erlogenen vollstopfen, nur um sie zu verschwenden und unsre Abscheu zu demonstrieren. Dieser Brief ist alt, der Verfasser ist inzwischen tot. Hat man es mitbekommen? Dies war der Brief eines Toten, eines Begrabenen, eines Beinhäuslers, eines Vergessenern.
(Die Herausgeber)